Die vergessene Wirklichkeit

Vor mehr als einem Jahr führten der Komponist Abdulaziz Shabakouh aus Kuweit und ich ein langes Telefonat bis fast Mitternacht. Während des Telefonats schickte er mir per E-Mail Noten und mp3-Dateien aus seinem Werk „The Zodiac Album“ („Das Sternzeichen-Album“) auf mein Laptop, in welchem er zu jedem Sternzeichen ein kurzes Klavierstück geschrieben hat. Wir hörten am Telefon zusammen einige Stücke daraus und sprachen darüber. „Which zodiac sign do you also want to hear?“ fragte er mich, und ich wählte natürlich mein eigenes Sternzeichen, die Waage.

Dieses Telefonat fiel mir wieder ein, nachdem mich Abdulaziz kürzlich eines Abends wegen einer Bitte anrief. In den Tagen danach suchte ich die E-Mails mit den Noten heraus und wählte erneut „Libra“ (Waage). Was findet man nicht alles an Waage-Menschen zugeschriebenen Eigenschaften, wenn man eine Suchmaschine bedient… Wie kommt man dazu, dieses Sternzeichen ausgerechnet in dieser Weise zu vertonen, wie es Aziz gemacht hat?

Ich unterbrach meine Arbeit an einer neuen Komposition und begann, dieses Klavierstück von Aziz zu orchestrieren. Noch nie habe ich so lange für eine Orchestrierung gebraucht; es waren in den folgenden Tagen viele viele Stunden meiner knappen Freizeit. Doch je mehr ich mich mit diesem Stück beschäftigte, desto mehr verstand ich, warum Aziz die Waage in dieser Weise vertont hatte. Oberflächlich betrachtet ist das Leichte und das Schwere zu hören, das in die Waagschale geworfen werden kann. Doch hinter dieser großartigen Musik steht mehr. Sie spricht davon, dass wir nur all zu oft an Glaubenssätzen über uns selbst und andere hängen, und dabei die Wirklichkeit übersehen.

Ich fühle mich geehrt, dass Aziz mit der Veröffentlichung meiner Orchestrierung einverstanden ist. Umso mehr, als dass „The Zodiac Album“ bislang nicht veröffentlicht wurde.

(Bitte Kopfhörer benutzen)
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13 Gedanken zu „Die vergessene Wirklichkeit

    1. Ja, selbst wenn man einiges von einem Menschen weiß, bedarf es manchmal einer tieferen Beschäftigung mit einer seiner Äußerungen (und sei sie in Musik gemacht), um etwas zu verstehen.
      Von Herzen meinen Dank, lieber Arkis.

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    1. Ich stimme dir zu, dass Intention und Rezeption niemals völlig deckungsgleich sein werden, soweit es das Gesamtkunstwerk betrifft. Aber einzelne Aspekte, wohl auch eine Grundidee, lassen sich verstehen. Lieben Dank und liebe Grüße an dich! 🙂

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  1. So kurz, aber auch so komplex! Imposant und kontrastreich: tief und hoch, ausgedehnt und quirlig,
    Ob Ihr beiden Komponisten nicht auch viel Gemeinsames habt? Ich hätte es glatt als allein deine Musik durchgehen lassen! Liebe Grüße, Petra

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    1. Vielen Dank, liebe Petra!
      Ja, wir haben wohl einiges gemeinsam. Unsere Musik ist in der Geisteshaltung verwandt, musikalisch jedoch unterschiedlich. Bei diesem Stück aber, da stimme ich dir zu, habe ich nach näherer Beschäftigung damit auch gedacht, dass es meine Sprache spricht. Vielleicht habe ich es deshalb ausgewählt.
      Liebe Grüße an dich! 🙂

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  2. Auch ohne das pianistische Original zu kennen, lässt sich sagen, dass die Orchestrierung sehr facettenreich und farbig wirkt. Das Symbol der Waage passt freilich zu so einer Orchestrierung ausgezeichnet: dem Original treu bleiben ohne die Möglichkeiten der orchestralen Farben zu „verraten.“ So gesehen könnte man den Zodiac auch als eine Sammlung typischer Herausforderungen sehen, denen wir im Leben (ganz unabhängig von unserem Geburtsdatum) begegnen. Die Waage wäre die Erinnerung daran, dass alles in der Welt nach Ausgleich strebt. Also nur, wenn wir (eine Schale) authentisch sind, wird unser Umfeld (andere Schale) uns in einer Weise begegnen, die unserem wirklichen Sein entspricht.
    Mit einem herzlichen Abendgruß 🐻

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    1. Herzlichen Dank, lieber Random! Diese Deutung des Stückes und des gesamten Albums gefällt mir ausgesprochen gut (zumal – bei allem Respekt – ich selbst nicht an Horoskope glaube). Deine Deutung im Besonderen zur Waage passt auch gut zu dem musikalischen Material des Stückes. Ganz lieben Dank für diese Gedanken und herzliche Grüße an dich! 🙂

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      1. Lieben Dank für deine zustimmende Antwort. 🙂
        Mein Kopfkino stellt sich vor, wie jemand von einem Glas Tomatensugo das Etikett ablöst und es zu seinen Nudeln kocht. Die von dir vorgestellte Musik lässt das Etikett Etikett sein und nimmt mit dem Inhalt des Glases vorlieb. 😉
        Mit einem herzlichen Gruß zum klangerfüllten Abend 🐻

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