Die Kraft aus dem Scheitern

Please at least use headphones. Thanks.


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Wen’s noch interessiert, hier die Geschichte dazu:

In einem Kompositionsstudium hat man neben dem eigentlichen Hauptfach viele Fächer und Kurse: Musikwissenschaft und -geschichte, Musiktheorie, Gehörbildung, Dirigieren, Klavier, Analyse, Generalbassspiel, Kontrapunkt, Akustik, Instrumentenkunde, usw. Auch Tonsatz gehört dazu: z.B. wie man nach den klassischen Regeln von einer Tonart in eine andere moduliert, welche Stimmführungsregeln zu beachten sind, usw. Dabei reiht man lediglich nach den gelernten Regeln metrisch Akkorde aneinander.

In meinem Urlaub habe ich meine bereits vergilbten Studienunterlagen aus einer Kiste hervorgekramt . Ich suchte eine bestimmte Tonsatzübung von damals, eine Modulation von B-Dur nach d-Moll. Also nahm ich den entsprechenden Ordner, setze mich ans Klavier und spielte die alten Tonsatzübungen durch. Mein damaliger Professor im Fach Tonsatz gab uns immer Hausaufgaben auf, die er in der nächsten Unterrichtsstunde einsammelte, zu Hause korrigierte und später wieder aushändigte. Nun saß ich da am Klavier, und – oje – in den Notenblättern vor mir war so einiges an roten Korrekturen zu sehen. Offenbar war ich etwas nachlässig in diesem Fach.

Nur einmal hat der Professor meine offensichtlichen Stimmführungsfehler nicht rot angestrichen. Es war diese gesuchte Modulation von B-Dur nach d-Moll. Warum auch immer: dieses eine mal damals war ich so keck, die Hausaufgabe in völlig unüblicher Weise anzugehen.

In der nächsten Unterrichtsstunde gab der Professor nicht wie sonst jedem einfach seine Hausaufgaben zurück. Er nahm meine Modulation aus dem Stapel Notenblätter, und spielte sie – sichtlich vergnügt – der Klasse vor.

Ich fand die Übung in meinem alten Ordner wieder. Hinter dieser Modulation befindet sich nur der Haken, den der Professor setzte. Sonst kein Rot. Trotz der Stimmführungsfehler. Das ganze inspirierte mich zu der obigen kleinen Geschichte in Musik mit Bildchen, die ich entgegen aller Erwartung am heutigen Feierabend fertigstellen konnte. Dabei spielte auch Abdulaziz Shabakouh eine Rolle, der an einer Musikhochschule Komposition unterrichtet. Er erzählte mir am Telefon im Vertrauen (daher kann ich den Inhalt hier nicht wiedergeben) von einer Begebenheit im Zusammenhang mit seinem Unterricht, die zusammen mit der damaligen Geschichte meiner Modulation in jener Unterrichtsstunde mir wohl erst jetzt richtig klar werden ließ: Dieser Professor war ein guter Lehrer. Und das meint nicht, dass es unwichtig wäre, die Regeln zu lernen. Auch diesem Menschen habe ich wohl mehr zu verdanken, als mir bisher klar war.

Zum Musikalischen im Video:

Die Anfangsmodulation im Klavier ist der nackte Extrakt aus meiner Modulation (die Notenbilder sind keine alten Originale, sondern für das Video von mir gemacht; die Stimmführungsfehler darin, wie z.B. verdeckte Parallelen, sind rot angestrichen). So klingt eine typische Tonsatzübung, wie am Anfang des Beitrags beschrieben. Im Orchester wird dann die Modulation ständig wiederholt (mehr passiert da nicht in harmonischer Hinsicht). Original erklingt meine damalige Tonsatzübung am Ende des Stücks, wieder im Klavier (auch dieses Bild dazu ist nicht das Original, sondern für die kleine Geschichte gemacht). Sie ist absolut identisch mit dem Extrakt am Anfang, einschließlich der Stimmführungsfehler, jedoch angereichert mit Leittönen, Gegenleittönen und Durchgangstönen (exakt so habe ich die Übung damals abgegeben). Dieses Prinzip findet sich heute vielfach in meiner freien Tonalität, nur, dass Leit- und Gegenleittöne oft nicht mehr aufgelöst werden oder sich auf Tonarten beziehen, die in der Modulation noch nicht erreicht sind oder nicht erreicht werden, und Durchgangstöne eher vermieden werden. Die Regeln kann ich heute und beachte sie mehr als damals, selbst wenn ich sie breche. Kann sein, dass der damalige Professor mir einen ersten Schlüssel gab für ein Schloss, das erst Jahrzehnte später geöffnet werden sollte.

32 Gedanken zu „Die Kraft aus dem Scheitern

  1. Ja, wenn man erst mal einen ordentlichen Scheiterhaufen beisammen hat, lässt sich ein schönes Feuer-Werk veranstalten. 😉
    Das ist eine bemerkenswerte Geschichte. Natürlich wäre ein Professor untauglich, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat und deshalb auf Regeln pfeift. Auf der anderen Seite ist ein prinzipienreitender „Beckmesser meckert besser“ auch nicht das Gelbe vom Ei. Es braucht wohl auch jenen Funken, der den Scheiterhaufen entzünden kann. Und Ähnliches gilt letztlich auch in der Musik. Die Regeln mögen wohl wie eine Rankhilfe sein, die für manche Pflanzen ganz nützlich ist, die aber selber nie Blüten trägt. 🙂
    Mit einem klangvollen Abendgruß 🐻

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    1. And again: A brilliant introduction! 🙂
      Wie Recht du hast, lieber Random. Regeln sind mehr oder weniger unumgänglich in der Musik, doch – um dein Sprachbild aufzugreifen – wie beim Düngen und Bewässern bestimmt vielleicht das Ziel das Maß: Will ich Tomaten, Kakteen oder wilde Rosen heranziehen? (Oder Gänseblümchen 🌼.)
      Der Funke bleibt oft unbemerkt, wird manchmal erst erinnert, wenn die Glut zur Asche bald erkaltet ..
      Ganz herzlichen Dank, und liebe Grüße an dich! 🙂

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  2. Eine feine musikalische Geschichte, die mir samt rot markierter Korrekturen sehr gefällt.
    Toll fand ich, daß dieser damalige Prof. Deine Modulation vergnügt vorspielte. Scheinbar gefiel sie ihm sehr, aber Worte hatte er keine dazu. Fand er wohl unnötig 🙂
    Ich finde auch Deine Karikaturen supergut dazu. Du weißt schon, daß Du auch hierfür ein feines Talent hast, Stefan?
    Ich habe von Musiklehre keinerlei Ahnung, aber ich höre gerne und weiß, ob mir etwas gefällt oder auch mißfällt… 🙂
    Nur interessehalber habe ich mal ein Semester experimentelle Musik gehört und bedauerte es sehr, daß die Professorin nur zu Gast in HD war und dann wieder verschwand, vermutlich in ihre Heimatstadt. Ihren Namen hab ich nie vergessen, weil sie einfach zu gut zum Vergessen war.
    Lieber Gruß von Bruni

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    1. Ganz herzlichen Dank, liebe Bruni!
      Dem Erzählen nach hat meine Großmutter schon mein Zeichnen gefördert, als ich noch ganz ganz klein war. Und auch von meinem Vater habe ich da wohl ein wenig geerbt.
      Dann kennst du das ja auch, dass es Lehrer gibt, die man so schnell nicht vergisst, weil sie einfach gut sind. Experimentelle Musik als Vorlesungsfach, wow. Das gab es nicht mal bei uns an der Musikhochschule.
      Ich freue mich über deinen Kommentar. Ganz liebe Grüße an dich!

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